LEIBNIZPROJEKT VORMODERNE VERFAHREN - BARBARA STOLLBERG-RILINGER

FORSCHUNGSPROGRAMM

 

 

Unter Verfahren kann man Handlungssequenzen verstehen, deren äußere Form (unter Umständen rechtlich) geregelt ist und die der Herstellung legitimer, allgemein verbindlicher Entscheidungen dienen [Grundlegend Luhmann 1993 , daran anschließend Stollberg-Rilinger 2001 ]. Die faktische gesellschaftliche Akzeptanz von Verfahrensentscheidungen, über deren sachliche Richtigkeit gleichwohl Zweifel und sogar Dissens bestehen kann, ist nicht selbstverständlich, sondern in hohem Maße erklärungsbedürftig. Wieso gewinnt ein Gesetz, ein Gerichtsurteil, eine Verwaltungsentscheidung etc. Geltung auch dann, wenn dies von einzelnen oder vielen Betroffenen inhaltlich als falsch beurteilt wird? Es ist als Spezifikum komplexer moderner Gesellschaften beschrieben worden, daß politische Legitimation nicht mehr von unvordenklicher Tradition, geheiligter Autorität oder tatsächlichem inhaltlichen Konsens abhängt, sondern durch formale Verfahren gestiftet wird. Das heißt, daß Entscheidungen dann und deshalb als allgemein verbindlich akzeptiert werden, wenn sie auf eine spezifische, formal geregelte Weise zustandegekommen sind. Das ist - so die These - in dem Maße der Fall, wie die Verfahren eine gewisse Autonomie gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen erwerben, in die sie eingebettet sind. D.h., daß sie als formale Verfahren überhaupt aus den alltäglichen Handlungsabläufen sichtbar herausgehoben sind, daß sie spezifische Verfahrensrollen ausgebildet haben, die das Handeln der Akteure von ihrem Handeln außerhalb des Verfahrens abgrenzen, daß sie ihre eigenen Rekrutierungsregeln besitzen, ihrer eigenen Verfahrenslogik folgen usw.

Das Projekt will an ausgewählten Beispielen untersuchen, inwiefern und auf welche Weise es dazu gekommen ist. Die Frühe Neuzeit gilt als die Epoche, in der sich Recht, Politik, Religion usw. als eigenständige gesellschaftliche Funktionssysteme ausdifferenziert haben, was zugleich heißt, daß sie voneinander abgrenzbare gerichtliche, gesetzgeberische, verwaltungstechnische, religiöse usw. Verfahren ausgebildet haben. Die Erforschung frühneuzeitlicher Verfahren kann einen Schlüssel zum Verständnis epochenspezifischer Funktionsweisen, Rationalitäten, Möglichkeiten und Grenzen von Politik und Recht als stabilen institutionellen Ordnungen und einen Einblick in Ausdifferenzierung von Institutionen bieten. Dabei kann an Vorarbeiten angeknüpft werden, die vor allem ständische Wahl- und Partizipationsverfahren in der Vormoderne zum Gegenstand hatten. Ausgangspunkt dieser Arbeiten war die Frage, welche Rolle die symbolisch-expressive Dimension für die Herausbildung und die Leistungskraft von Verfahren spielt.

Als Prämisse unserer Untersuchungen gilt die Annahme, daß – unabhängig von allen unterschiedlichen Verfahrensformen in Politik, Recht und Verwaltung – allen Verfahren eine bestimmte soziale Funktion zugrunde lag, nämlich Entscheidungen einiger, weniger oder einzelner kollektiv verbindlich zu machen. Dies ist bekanntlich das Grundproblem aller Macht- und Herrschaftsbeziehungen, des Wechselverhältnisses von Individuum und Gesellschaft und damit der Möglichkeit zur Stabilisierung komplexer sozialer Ordnungen überhaupt (Georg Simmel). Gerichts- oder Gesetzgebungsprozesse sind dann nur zwei Facetten des Legitimationsgenerators Verfahren. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist dies höchst unwahrscheinlich und erklärungsbedürftig: Entscheidungen implizieren nämlich stets die Festlegung auf eine Möglichkeit unter vielen , sie offenbaren deshalb Kontingenz , weil sie ‚Wahrheit' und ‚Gerechtigkeit' für Positionen postulieren, die von anderen nicht geteilt werden müssen. Damit sind soziale Konflikte vorgezeichnet, wenn nicht durch bestimmte Mechanismen das Kontingenzproblem wieder entschärft wird. Schon Max Weber fragte deshalb nach den „Chancen“, bestimmten Entscheidungen bei bestimmten Personen legitime Geltung, Verbindlichkeit also, zu verschaffen, um sie zu Prämissen ihres Handelns zu machen. Gewalt, Charisma, Traditionen, Konsens, Gefühle und Werte allein konnten allerdings schon Weber zufolge die verbindliche Geltung einer komplexen Herrschaftsordnung nicht garantieren. Ebensowenig erklären dies die juristischen, „altliberalen“ Anerkennungstheorien (Kant, Welcker, Jellinek usf.). Niklas Luhmann versuchte genau dieses Problem mit seiner Theorie der „Legitimation durch Verfahren“ zu vertiefen, womit er nach unserer Ansicht ein Modell vorgelegt hat, dessen analytisches Potential gerade auch der historischen Forschung Impulse liefern kann. Dabei geht es nicht darum, die an der modernen Gesellschaft orientierte Theorie unmittelbar auf die Vormoderne anzuwenden (ein Mißverständnis, das häufig auch bei der Nutzung der Weberschen Herrschaftstheorie begegnet), sondern in Auseinandersetzung damit die epochalen Unterschiede herauszuarbeiten. Wesentlich für das moderne Verfahren ist eine Durchsetzungsgarantie der Entscheidungen – allerdings nur im Grenzfall durch einen Zwangsapparat. Diese Leistung gründet vielmehr in tiefer liegenden sozialen Mechanismen, die den Beteiligten zumeist selbst nicht bewusst werden. Deswegen reichen auch kommunikationstheoretische Erklärungen des Verfahrens, die auf Konsens und diskursive Begründbarkeit der Entscheidungen zielen, nicht aus (Jürgen Habermas, John Rawles).Vielmehr wird durch Verfahren Sinn kanalisiert und Komplexität reduziert, ein diffus-allgemeines Problem z.B. wird durch Verfahren in ein Sonderproblem nach dem Verfahren transformiert, für das keine relevante soziale Unterstützung mehr mobilisiert werden kann.

Wesentlich für die historische Rekonstruktion von Verfahren ist dabei die Einsicht, dass das Kontingenzproblem von Entscheidungen im Laufe der Geschichte keineswegs obsolet wurde. Die in jeder rechtsverbindlichen Entscheidung implizierte soziale Zumutung und Nötigung läßt sich nicht wegrationalisieren. Vielmehr musste der für die soziale Stabilität stets bedrohliche, aber nicht zu überwindende Dezisionismus auf unterschiedliche Weise hinnehmbar gemacht (u.U. sogar verschleiert) werden – im Mittelalter etwa durch den gewohnheitsrechtlichen Diskurs, durch Gottesbeweise u.ä., in der Moderne aber durch die Darstellung der Herstellung der Entscheidung aus Normen im Verfahren. Mit Bezug auf das soziale Dilemma der Entscheidung, notwendig und unerträglich zugleich zu sein, ist die Geschichte des Verfahrens nicht nur als Zunahme von Rationalität zu verstehen, sondern ebenso auch als Suche nach funktionalen Äquivalenzen zur Legitimation von Entscheidungen unter dem Eindruck sozialer Pluralisierung und Komplexitätssteigerung.